Leschnitzer - Konfektion - Juden in Krems

Die Frau in Gold. Buch: Alexi Kaye Campbell. Regie: Simon Curtis

Artikel vom 13. November 2006 [Links aktualisiert und ergänzt]

Über den Tänzer und Balettmeister Alfred Leschnitzer findet sich im Internet nichts [ein Hinweis im Zusammenhang mit dem Kabarettisten Alfred Ferdinand Nathan], und da surfe ich ein wenig herum, um irgend etwas herauszubekommen, was mich weiterbringen könnte in den Recherchen. Leschnitzer im Web ergibt 11 900 Angebote, da such' mal einer! Gibt es Verwandte, oder sind die anderen nur Namensvettern? Was ist mit dem 1899 in Posen/Poznan geborenen Adolf Leschnitzer? Ab 1952 lehrt er die Geschichte des deutschen Judentums an der FU Berlin. Ist er ein Namensvetter, ein naher Verwandter, gar ein Bruder? Was ist mit dem Kommunisten und Moskau-Emigranten Franz Leschnitzer, der nach dem Krieg gemeinsam mit Li Weinert das Buch Erich Weinert: Ein Lesebuch unserer Zeit herausgibt? Von den Angeboten beziehen sich viele auf die oberschlesische Stadt Leschnitz und ihre Bürger, die Leschnitzer, die fallen also aus. Andererseits ist Neiße, der Geburtsort von Alfred Leschnitzer, nicht weit entfernt. Auch Gleiwitz, von wo am 1. September 1939, ab 5:45 Uhr, "zurückgeschossen"wird, liegt dicht bei.

Das bringt nicht viel, und so versuche ich es mit Leschnitzer - Konfektion; denn Alfred Leschnitzer soll eigentlich den elterlichen Konfektionsbetrieb übernehmen. Ich stoße auf eine merkwürdige Eintragung; es ist eine Microsoft-Datei zum Thema Juden in Krems. Sie dokumentiert Rückstellungsanträge samt Rückstellungsdatum und Anmerkungen bzgl. Rückstellung.

Was ein Rückstellungsantrag ist, definiert außer der im Internet versammelten Gegnerschaft des Wehrdienstes treffend die Schweizerische Gesellschaft für Kleintierzucht auf ihrem Blog: Rückstellungsanträge, egal ob in der Politik oder sonstwo, werden immer von Gegnern einer Sache gestellt. Die in der Datei aufgeführten Hunderte von Juden wollen ihren Besitz rückgestellt, zu deutsch zurückgegeben bekommen, sie sind Gegner ihrer Enteignung.

Österreich trennt sich von Munch-Gemälde. DIE WELT, 9. November 2006

Ausführlicheres über verweigerte Rückstellung erfährt man im Zusammenhang mit dem Rückstellungsantrag der Alma Mahler-Werfel, die ihr Lieblingsgemälde Sommernacht am Strand, von Edvard Munch, vom österreichischen Staat zurückhaben will: Bereits im Jahre 1947 stellte Alma Mahler-Werfel einen Rückstellungsantrag gegen die Republik Österreich. Die Klage wurde aber 1953 durch das Oberlandesgericht Wien abgewiesen. Spannend, wie's weitergeht. Die Erben kämpfen weiter. Seit dem 17. Februar 2006 gibt es ein neues Restitutionsverfahren.

Irgendwo in der umfangreichen Datei der Rückstellungsanträge gibt es neben einem Kaufmann/Konfektion u. Manufaktur einen damit nicht zusammenhängenden Eintrag Verheiratet: Mädchenname: Leschnitzer. Alle Eintragungen handeln von enteigneten, betrogenen, verfolgten, deportierten und ermordeten Juden aus den niederösterreichischen Orten, Krems, Neunkirchen, St. Pölten und Korneuburg. Eine informative Lagekarte der Städte findet man bei den Rechtsanwälten Niederösterreichs. Vielleicht vertritt der eine oder andere von ihnen ja Antragsteller?

Hunderte von Juden sind auf immer gleichen Formularen erfaßt: Name, Mädchenname, Adresse in einem der Orte, im Jahre 1938, Geburtsdatum, Beruf, Familienstand, letzte Wohnadresse. Deportiert - Gestorben - Exilland - Schicksal. Dazu gibt es merkwürdige Einträge, jemand ist 1899 in der UdSSR geboren, ein anderer Ende der 30er Jahre nach Israel ausgewandert, selten sind Vermerke zu Deportationen, Todestagen, zum Exilland und zum Schicksal, was immer damit gemeint ist. Die Frau mit dem Mädchennamen Leschnitzer finde ich; Bianca A., aus St. Pölten, ist am 25. November 1905 geboren, nach Palästina (!) emigriert und im April 1970 gestorben. Ist sie eine Schwester oder Cousine von Alfred Leschnitzer?

Ohne Wiege, ohne Bahre: Formulare, Formulare

Außer den genannten Begriffen gibt es weitere vorgegebene. Nach dem Anschluß Österreichs ans Deutsche Reich werden die Juden umgehend ausgeplündert und ihr Besitz erfaßt. Auf einigen Formularen finden sich unter Wert Gegenstände Beträge von unter 100 RM: Josefine B., geboren am 18. Juni 1884, deportiert nach Kielce, am 19. Februar 1941: Wert Gegenstände 100 RM.

·     Geschäftsguthaben
·     Spareinlagen insgesamt
·     Wert Land und Forstwirtschaft
·     Wert Grundbesitz
·     Wert Gegenstände
·     Rentensumme
·     Gesamtwert
·     Schulden gesamt
·     Realsum
·     Beilagen zum Vermögensverzeichnis
·     Arisierungsakten
·     Quelle
·     Vermögensverzeichnis Antrag
·     Anmerkung

Sie bleiben in sehr vielen Fällen unausgefüllt, so bei Bianca A. Mädchenname Leschnitzer; dann ist vermerkt: kein Vermögensanmeldungsakt vorhanden. Unter Anmerkung steht in einem anderen Fall: sämtliche Wertgegenstände wurden im April und Mai 38 beschlagnahmt. Der Anschluß/die Annexion Österreichs findet am 12. März 1938 statt. Rasche, effiziente Arbeit!

Unter Quelle steht beispielsweise: NÖLA, VerzüJV, Karton 1325, oder Karton 1317, oder Karton 1320. NÖLA ist das Niederösterreichische Landesarchiv. Es heißt im Internet ohne jede Erklärung meist NÖLA oder NöLa, und da findet man auch Informationen über niederösterreichische enteignete Synagogen, Bethäuser und Beträume. Die liegen in NÖLA Kartons Nr. 80, 602 oder sonstwo. Die Behörden kommen nach dem 12. März 1938 gar nicht nach mit dem Erfassen der "freiwilligen" Geschenke der Juden, mit dem Rauben und Katalogisieren derer Besitztümer. Was VerzüJV heißt, steht nirgends - wahrscheinlich Verzeichnis über jüdische Vermögen.

Wer nun meint, es sei genug mit den merkwürdigen Begriffen, der hat noch nicht die Einträge unter der Rubrik Beilagen zum Vermögensverzeichnis gelesen. Da kann man den Reichtum der deutschen Sprache kennenlernen:

·     Arisierung
·     Entjudungsauflage
·     Judenabgabe
·     Judenvermögensabgabe
·     Reichsfluchtsteuerbescheid
·     Veränderungsmeldung
·     Veräußerungsaufforderung (im Völkischen Beobachter)
·     Vermögensbekenntnis
·     Zwangsentjudung

Über Arisierung wissen sicher alle Bescheid, aber was ist eine Entjudungsauflage? Dank Internet bleibt man nicht lange ohne Antwort. Hier gibt die Wiener Stadt- und Landesbibliothek ein Beispiel für eine Entjudungsauflage; sie schädigt und ärgert den Arisierer:

Wie auch sonst bei solchen "Arisierungen" mußte der "Käufer" nicht bangen, der "Verkäuferin", in diesem Fall Lucy Tal, etwas zahlen zu müssen. Wohl aber mußte die "Allgemeinheit" etwas davon haben, und zwar in Form einer "Entjudungsauflage", die einen gewissen Prozentsatz des von der Abteilung Auflagenberechnung der VVSt errechneten sog. Mehrwertes einer Firma darstellte. Obwohl der "Kaufpreis" sich inzwischen auf RM 4.500 reduziert hatte, gab es schließlich nach dem Bericht eines Buchsachverständigen keinen "zugelassenen Kaufpreis" mehr. Durch die "Arisierung" war die Firma E.P. Tal finanziell derart heruntergekommen, daß sie erstens nichts mehr wert, zweitens überschuldet war. Also: auf der einen Seite ein mit großem Aufwand aufrechterhaltener Schein der Rechtmäßigkeit, auf der anderen Erwerb zum Nulltarif. Aber nicht ganz: Ibach mußte zu seinem Ärger als "Entjudungsauflage" einen Betrag von RM 4.482 an die Staatskasse abliefern ...

Die Judenvermögensabgabe geht auf eine Initiative Hermann Görings zurück. Unter dem Vorwand der  "Sühneleistung" für "die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk", nach dem Attentat auf den deutschen Legationssekretär Eduard vom Rath und nach den Novemberpogromen 1938 werden die deutschen Juden vom Staat ausgeplündert. Von allen Juden mit einem Vermögen von mehr als 5000 RM wird eine Kontributionszahlung von 1 Milliarde Reichsmark verlangt. 20 Prozent des Vermögens müssen in vier Raten bis zum 15. August 1939 an das Finanzamt abgeführt werden, bis zum 15. November 1939 muß eine fünfte Rate aufgebracht werden.


Chic Parisien, die Familie Bachwitz und Albert Einstein. Löwengasse 47 (1938)

Bei dem weniger geläufigen Begriff Judenabgabe fragt mich Google erst einmal, ob ich nicht Bodenabgabe meine. Bei Entjudungsauflage und bei Judenvermögensabgabe gibt es solche Frage nicht, da weiß Google gleich Bescheid. Auch für den Begriff Judenabgabe kann die Wiener Stadt- und Landesbibliothek ein Beispiel geben [nicht mehr online]: (8)

Die im Mai (1938) unter der Leitung des "Staatskommissars" Walther Raffelsberger eingerichtete Vermögensverkehrsstelle überwachte die "Arisierungen" und führte sie durch. Die Höhe des Kaufpreises setzte die Behörde fest. Selbst diese Summe, die in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Wert stand, wurde nicht voll ausgezahlt, sondern für angebliche Steuerrückstände, Reichsfluchtsteuer, "Judenabgabe" u.ä. zurück behalten.

Christina Kanzler schreibt in ihrem Artikel über Flucht und Vertreibung 1934 - 1945 zum Thema Judenabgabe [nicht mehr online]. Sie erwähnt dabei auch das Palästina-Amt, dem die Durchführung der Palästina-Emigration oblag, sowie die Gildemeester-Hilfsaktion, die nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörende Personen betreute:

Am 20. August 1938 wurde die Zentralstelle für jüdische Auswanderung inWien gegründet. Diese vereinte Außenstellen aller mit der "Auswanderung" befassten Behörden sowie die zuständigen Abteilungen der Kultusgemeinde unter einem Dach. Zugleich war die "Zentralstelle" Vollzugsinstanz eines ausgeklügelten Systems der Enteignung. Eichmanns Vorstellungen gemäß sollten die wohlhabenden Juden gemeinsam mit ausländischen Hilfsorganisationen die Kosten der "Auswanderung" von weniger wohlhabenden Juden tragen. Durch die den Emigrationswilligen abgepressten Steuern und Gebühren ("Reichsfluchtsteuer", Passumlage, "Judenabgabe") wurden Reisespesen, Landungs- und Vorzeigegelder, Devisen und auch die Betriebskosten der "Zentralstelle" selbst finanziert. Die Vertriebenen hatten zu Gunsten des Deutschen Reiches auf ihren gesamten Besitz zu verzichten und verließen das Land in den allermeisten Fällen völlig mittellos.

Die Judenabgabe wird vom Kaufpreis für die jüdischen Besitztümer, von dem Schleuderpreis, den der jüdische Verkäufer erhält, vom Staat abgezogen, um somit die eventuell bestehende finanziellen Verpflichtungen des Juden abzudecken.

Die Reichsfluchtsteuer ist eine Erfindung der Weimarer Republik, aus dem Jahre 1931, zur Verhinderung von Kapitalflucht. Sie ist eine Art Tobin-Steuer vor der Zeit. 25 Prozent des Vermögens müssen an den Staat abgegeben werden, wenn der deutsche Bürger seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt. Diese Steuer wird erst 1953 abgeschafft.
Klimt in Sewastopol. Von Marianne Enigl, profil, 14. Juni 2004

Der Begriff Vermögensbekenntnis ist manchem schon im Zusammenhang mit der NS-Raubkunst vertraut. Der Staat Österreich wird in den USA auf Herausgabe von sechs Werken des Malers Gustav Klimt, darunter das der Adele Bloch-Bauer, verklagt. Was Alma Mahler-Werfel zu ihren Lebzeiten nicht gelingt, jetzt könnte es endlich möglich werden. In dem sehr lesenswerten Artikel von Marianne Enigl ist vermerkt, daß die Klägerin und Erbin Maria Altmann [gerstorben, 94-jährig,, am 7. Februar 2011] sich auf ein Vermögensbekenntnis bezieht, um als rechtmäßige Besitzerin die Gemälde zurückzuerhalten. Solche Bekenntnisse verlangt man auch vom Juden David Rachmuth nach dem Anschluß Österreichs. Sein Vermögen ist ohnehin gesperrt, und der Fabrikant kann seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten.

Eine Veränderungsmeldung aus den Formularen betrifft die Übergabe eines Gartens an die NSDAP durch den Fabrikanten David Rachmuth. Sein Vermögen wird dadurch geringer, was am 5. Dezember 1938 eine Veränderungsmeldung zur Folge hat. Die Microsoft-Datei ist bei den meisten Fällen nicht sehr informativ, bei David Rachmuth aber kommen Veränderungsmeldung, Judenvermögensabgabe, Judenabgabe und Vermögensbekenntnis vor.

Eine Veräußerungsaufforderung ergeht beispielsweise an das Neunkirchner Ehepaar Max und Regine H., das nicht schnell genug der Arisierung ihres Besitzes zustimmt. Die NSDAP schaltet eine Anzeige im Völkischen Beobachter, vom 12. Juli 1941, und schickt die Rechnung an das Ehepaar. Unter der Rubrik deportiert steht für Regine H. im Formular: 19.2.1941 Kielce, für Max H. ist vermerkt: 1.10.1942 (20.2.1941) Theresienstadt. Vielleicht hat jemand die Rechnung nach Theresienstadt weitergeleitet und der Zeitung der NSDAP so zu ihrem Geld verholfen.

Was die "Zwangsentjudung" angeht, so stimmt der Reichswirtschaftsminister der geplanten Arisierung des Grundbesitzes des Ernst S. [Sofer], geboren 3. Februar 1897, und seiner Gattin Elise (nichtjüd. röm. kathol.) nicht so reibungslos zu (4.12.40), wie vom kommissarischen Bürgermeister Korneuburgs erwünscht. Er beschwert sich beim Reichsstatthalter: Ernst S. verzögert Verkauf/ hat andere Judenfamilien im Haus aufgenommen/ "wollen aus einer gewissen Hartnäckigkeit heraus Korneuburg nicht verlassen". 

Zwar weiß ich nun nichts Neues über den Tänzer und Balettmeister Alfred Leschnitzer, aber meinen deutschen Wortschatz habe ich erweitert. Zum Spaßen und Tanzen ist mir allerdings nicht zumute.

13. November 2006 [aktualisiert und archiviert am 12. April 2020]